Lit candles von Udayaditya Barua

Kulturelle Fragen, Vorurteile und Gedanken: Ist Indien gefährlich?

Ich möchte mich gerne wieder mehr mit der Kultur Indiens beschäftigen und meine im Kontakt gesammelten Erfahrungen und Gedanken nieder schreiben. Besonders beschäftigen mich Vorurteile, über die ich hier schreiben möchte. Ich habe nicht den Anspruch, meine Weisheiten hier als gegeben darzustellen oder anderen vorzuschreiben, wie sie über die besprochenen Themen denken sollen. Es geht hier um meine erlerntes Wissen, meine Wahrnehmung, meine Erfahrung.

Blauer Wagen

Ist Indien (vor allem für Frauen) gefährlich?

Wenn ich über meine Reisen in und nach Indien erzähle, kommt in 80% der Fälle die Frage: „ist es denn nicht gefährlich, als Frau alleine in Indien?“ oder die Bemerkung: „Indien finde ich schon spannend, aber ich traue mich nicht dorthin“. Diese Annahme, dass man sich in Indien nicht gefahrlos bewegen kann, ist leider eines der am meisten verbreiteten Vorurteile und für mich der Inbegriff von Fehlbeurteilung. Dass hier die tatsächlichen Gegebenheiten weit vom Vorurteil abweichen, ist für viele eine Überraschung und für manche auch nicht sehr glaubwürdig. Woher kommt das? Ich vermute, dass eine Reihe von kognitiven Verzerrungen, gemischt mit individuellen Persönlichkeitsmerkmalen und Kulturausprägungen zu dieser Annahme führt.

Friederike in Kochi
Friederike in Mamallapuram

Viele denken als erstes an Massenvergewaltigungen und Gewalt gegenüber Frauen, wenn sie an Indien denken. Das passiert, wenn es fast ausschließlich solche Meldungen aus diesem Land sind, die die wenigen Informationen über die Kultur darstellen. Je präsenter, also „verfügbarer“ Berichte über Vergewaltigung in Indien sind, desto wahrscheinlicher sind sie auch für einen. Vor allem, wenn Berichte darüber, wie sicher es in Indien ist, fehlen. Das wird in der Psychologie passenderweise „Verfügbarkeitsverzerrung“ genannt. Eine Vergewaltigung in Indien wird also für jemanden als wahrscheinlich angenommen, wenn diese Person von Indien sonst nicht viel mitbekommt. Aber das ist noch nicht alles, denn der Mensch neigt auch dazu, Informationen so wahrzunehmen, dass sie seine bereits bestehenden Annahmen noch bestätigen (in der Psychologie heißt das Bestätigungsfehler). Für jemanden, der/die bereits denkt, dass Indien gefährlich ist, für den/die klingt ein „ich habe mich niemals bedroht oder unsicher gefühlt“ eher wie ein „ich hatte Glück, mir ist nichts passiert“. Wenn der/die Empfänger/in solcher Informationen dann auch jemand ist, der/die ein hohes Sicherheitsbedürfnis hat und gegebenenfalls auch noch ein eher vorsichtiger oder ängstlicher Mensch ist, dann kann das leicht zu dem Vorurteil führen, dass Indien gefährlich ist. Selbst westliche Reisende, die bereits dort waren, berichten, dass sie sich nicht zu jedem Zeitpunkt wohl gefühlt haben, obwohl sie niemals angegriffen wurden. Das liegt vielleicht auch daran, dass Inder/innen sehr offene, neugierige Menschen sind, sich in Gespräche einmischen, Fragen stellen und einem hinterherrufen, weil sie wissen wollen, woher man kommt. Sie wollen oft Selfies mit einem machen und halten kulturell bedingt einen geringeren physischen Abstand bei der Kommunikation, als wir es gewohnt sind. Für viele Inder/innen sind westliche Touristen einfach interessant, da sie nicht viel Kontakt zu ihnen haben. Wer das nicht kennt, fühlt sich bedrängt.

Ich denke, dass es große Unterschiede zwischen Stadt und Land gibt, aber auch touristischen und touristisch weniger interessanten Orten. In Städten habe ich mich niemals bedroht oder unsicher gefühlt. Entgegen der Warnungen, die man oft im Internet lesen kann, ist es auch weder ein Problem, sich noch Abends draußen aufzuhalten, noch als Frau ärmellose Oberteile oder kurze Röcke zu tragen. Manche Stadtteile der großen Städte sind so stark westlich geprägt, dass man nicht das Gefühl hat, sich in einem anderen kulturellen Umfeld zu befinden. Generell orientieren sich junge Akademiker/innen in Indien in ihrem Lebensstil sehr stark an westlichen Kulturen, vor allem der US-amerikanischen Kultur. Englisch wird überall zumindest verstanden. Auch die touristische Infrastruktur ist so gut ausgebaut, dass es sehr unwahrscheinlich ist, auf dem Weg zu einer bekannten Sehenswürdigkeit überfallen zu werden, oder gar verloren zu gehen. Selbst für Dharavi, einem der größten Slums der Welt, werden Führungen für Touristen angeboten.

Das heißt natürlich nicht, dass es keine Gewalt gibt. Die gibt es ja überall. Und ja, viele Gewalttaten richten sich gegen Frauen. Frauen werden unter der ländlichen, nicht-akademischen, oft ärmeren Bevölkerung häufiger diskriminiert. Man sieht auch immer wieder Plakate oder Fernsehwerbung für Stellen, an die sich Frauen wenden können, wenn sie belästigt werden oder sich bedroht fühlen. Das Thema ist durchaus präsent. Vor allem gilt die Hauptstadt New Delhi als Brennpunkt für sexuelle Belästigung. Allerdings sind das oft familiäre oder intrakulturelle Konflikte, Touristinnen betrifft das wirklich selten.

Die Aussage, dass Indien gefährlich ist, kann ich also klar verneinen. Ich persönlich habe mich am meisten von den Affen bedroht gefühlt, die auf Tempelanlagen herumlaufen und Besuchern gegenüber oft aggressiv auftreten. Wenn ich ein Problem hatte, habe ich immer schnell und wie selbstverständlich Hilfe von eine/m Inder/in erhalten. Selbst wenn etwas passieren würde, wüsste ich, dass mir sofort geholfen werden würde, wenn jemand mitbekommt, dass ich mich bedroht fühle. Ein klares und betontes „Nein“ wird in Indien genauso verstanden, wie beispielsweise in Deutschland. Sich das selber klar zu machen, hilft, unbeschwerter und weniger ängstlich zu reisen. Ich hoffe, dass ich allen, die sich für Indien als Reiseland interessieren, die sich aber aufgrund von Sicherheitsbedenken zögern, die Sorge damit nehmen kann. Denn die Reise lohnt sich auf jeden Fall.

Nächstes Mal: Kühe sind heilig

Der nächste Beitrag zum Thema „Kulturelle Fragen, Vorurteile und Gedanken“ wird ein bisschen weniger ernst, denn ich möchte gerne die Frage erörtern, ob Kühe in Indien wirklich heilig sind.

2 Kommentare

  1. Sehr interessante Erfahrungen aus deiner Perspektive 🙂 du hast ja u. A. auch die hilfsbereitesten Menschen direkt auf deinem ersten Hinflug getroffen! Freu mich auf den Post über heilige Kühe haha

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